Wo sind denn hier die Weinberge? – Schon 500 Kilometer fahren wir durch Frankreich, durchqueren berühmte Weinregionen und weit und breit nur Wiesen und Kornfelder. Als wir die Autobahn verlassen und hinunter ins Tal der Loire rollen, ändert sich zwar die Landschaft, aber Rebstöcke sehen wir noch immer nicht. Stattdessen Hügel, Bäume, Obst, charmante Dörfer, „die wie aus der Zeit gefallen scheinen“. So beschrieb es schon 2013 der Frankreich-Experte Matthias Neske (Chez Matze). Auch zehn Jahre später haben sie noch immer nicht wieder hineingefunden. Um zu erkennen, dass sich hier eine der vielfältigsten Weinregionen der Welt versteckt, muss man schon genauer hinschauen. Das haben wir getan.
Amboise: Fürstliche Bettruhe
Unser erster Stopp ist Amboise, wo uns schon von Weitem das mächtige Schloss ins Auge springt. Kompakt thront es über der Altstadt, Ton in Ton mit der Loire-Brücke und den zahlreichen Herrenhäusern, die sich in den engen Gassen aneinanderreihen. Viele von ihnen werden heute als Pension oder Hotel genutzt. Eines davon wird uns beherbergen. Wenn es schon mal Schlösser satt gibt, soll die erste Nacht zumindest fürstlich sein.
Wir werden nicht enttäuscht: Das Le Clos d’Amboise ist ein historischer Prachtbau mit Garten und Pool. Unser Auto passt gerade so durch das hohe Tuffstein-Tor, dahinter wird es noch enger. Doch der aufmerksame Empfangschef eilt herbei, begrüßt, leistet Einparkhilfe, kümmert sich ums Gepäck – wir sind angekommen. Vor uns liegen sieben Tage Weinentdecker-Tour an der Loire. An diesem Abend beginnt sie zunächst auf der Weinkarte des Hotelrestaurants, in der die 33 AOC-Appellationen des Val du Loire gleich mehrfach vertreten sind.
Es macht großen Spaß, die Weine anhand der Ortsnamen auszuwählen, die wir gerade durchfahren haben oder in Kürze noch besucht werden. Besser kann man sich das kleinteilige französische Lagen- und Appellationssystem, das die Etiketten bisweilen so verwirrend erscheinen lässt, nicht erschließen.
Unten: Blick auf Amboise, wo Leonardo da Vinci seinen Lebensabend verbrachte. Am Fluss wurde dem Künstler ein überlebensgroßes Denkmal gesetzt.
Oben: Fürstliche Adresse: Das Hotel Le Clos d’Amboise mit Salon.
Tours: Entdeckung des Auenlands
Am nächsten Morgen geht es weiter nach Tours. Eigentlich wollten wir die Stadt links liegen lassen, aber eine geschäftliche Verabredung führt uns mitten hinein. Und das ist ein Glück, denn die 136.500 Einwohner*innen große Hauptstadt der Provinz Touraine hat – aufgrund der starken Zerstörung während des Zweiten Weltkriegs – zwar heute kein Schloss mehr zu bieten, versprüht jedoch durch einen spannenden Mix aus historischen Bauten und moderner Architektur sowie durch die vielen Studierenden viel Charme und Lebendigkeit. Für uns ein schönes Beispiel dafür, dass es auch in Städten, die unter dem Sightseeing-Radar liegen, viel zu entdecken gibt. Gerade die Tatsache, dass die Tourismus-Ströme an ihnen vorbei ziehen, macht sie besonders authentisch.
Uns offenbart sich in Tours eines der Geheimnisse des großen Flusses. Immer wieder zieht es uns an sein Ufer. Wir überqueren die fast 500 Meter langen Brücken, die häufig nicht nur die Loire, sondern auch die vielen darin liegenden Inseln überspannen. Letztere sind so groß, dass darauf Sport- und Freizeitanlagen, Campingplätzen, aber auch ganze Vororte Platz finden. Die Loire scheint uns wie ein großes Auenland. Überall viel Wasser und Grün – und das nicht nur außerhalb, sondern auch mitten in den Städten.
Oben: Entdeckungen in Tours | Der Künstler Nicolas Milhé hat Balsacs Personal der „menschlichen Komödie“ in moderne Skulpturen übersetzt.
Die Fenster der Kathedrale leuchten im Morgenlicht. Unten: Die unbegradigte Loire, heute ist sie nur noch mit flachen Holzbooten schiffbar.
Was die Hausfarbe verrät
Nun aber in die Weinberge. Wir haben endlich verstanden, wo sie sich verstecken: Sie liegen nicht unmittelbar am breiten, naturbelassenen Fluss, sondern im Hinterland und an den Hängen der zahlreichen Nebentäler mit den – zumindest im Vergleich zur Loire – schmalen Zuflüssen.
Zu den Spitzenlagen geht es hinauf bis an den Waldrand, wo ein kühler Wind weht. Die alten Chenin-blanc-Rebstöcke wurzeln tief. Aus welchen Gesteinsformationen die Böden bestehen, verrät die Farbe der Häuser: Sind sie dunkel und ungleichmäßig gesprenkelt, befinden wir uns im westlichen Anjou, das von Sandstein und Schiefer geprägt ist. Leuchten sie weiß in der Sonne, stehen wir im östlichen Anjou oder der Touraine. Unter unseren Füßen der berühmte Tuffstein.
Weiße Häuser in Bourgueil und Fontevraud. Dunkle Steine in Savennières.
Saumur: Alles Tuff
Über 1.500 Kilometer lang ist das unterirdische Tunnelsystem, das seit 1.000 n. Chr. vom Abbau des Tuffsteins zurückblieb. Diese Unterwelt ist faszinierend und wird vielfältig genutzt: Einst als Wohnung der armen Bevölkerung, heute als Hotel, Restaurant, Garage oder Abstellraum, zur Champignon-Zucht – und natürlich als Weinkeller. In erster Linie für den berühmten Crémant de Loire. Letzterer interessiert uns besonders und so wandern wir an unserem ersten Tag in Saumur hinaus in den Vorort St-Hilaire-St-Florent, wo sich Sektkellerei an Sektkellerei reiht. Besucht wird natürlich das Original. Nicht nur, weil Jean-Baptiste Ackerman 1811 der Erste war, der an der Loire mit der Schaumweinproduktion nach der Méthode Champenoise begann, sondern auch, weil in den bis zu zehn Meter hohen Höhlen der Maison Ackerman jedes Jahr die Naturweinmesse „La Dive Bouteille“ stattfindet. Der Ort ist also legendär. Auch wenn sich das von außen kaum erahnen lässt. Einzig die alte Uhr über der Kellertür dient als Wiedererkennungszeichen.
Die Überraschung ist umso größer, als wir nach dem Passieren der Vinothek und einer der üblichen Videopräsentationen über die Geschichte des Hauses plötzlich vor einem riesigen Kunstwerk stehen. Familie Ackerman hat einen Teil der kirchenartigen Kellerräume von zeitgenössischen Künstler*innen gestalten lassen. Höhlenmalerei, Firmament, Sektproduktion - viele Themen werden hier assoziativ miteinander verwoben. Wir wandern staunend von einer Installation zur nächsten.
Höhle macht erfinderisch: Oben: Kunstinstallationen in der Cave Ackerman.
Mitte: Champignon-Zucht, Weinlager und einstige Wohnung. Unten: Leerstand und kontinuierliche Nutzung.
Wein und Geschichte im Überfluss
In der historischen Altstadt von Saumur hat sich die kleine Weinhandlung La Tonnelle zur ersten Adresse für die Vins du Val de Loire entwickelt. 1.000 Etiketten verstecken sich in den unscheinbaren Regalen. Die angeschlossene Weinbar setzt mit einfachen Stühlen, Neonlicht und schnöden Topfpflanzen bewusst auf Understatement. Dafür hat es die Weinkarte in sich: Geöffnet sind Loire-Weine von klassisch bis freaky. Nicht auszudenken, was hier los ist, wenn im Februar die internationale Naturwein-Szene in der Stadt zu Gast ist.
Saumur ist auch ein idealer Ausgangspunkt, um kleine Tagestouren in die Nebentäler zu unternehmen. Angefangen von der Rotwein-Enklave Saumur-Champigny, wo in den von Büschen und Hecken umgebenen Rebgärten Vögel zwitschern und Bienen summen. Bereits 80 Prozent der Weinberge des Verbands InterLoire werden heute nachhaltig bewirtschaftet. Bis 2030 sollen es 100 Prozent sein. Welche Chancen das für die Biodiversität bietet, lässt sich in den Weingärten erkennen, die heute schon so weit sind: An den Rändern wachsen Silberdisteln und Wildblumen, auf den alten Mauerresten sonnen sich Eidechsen.
Aber auch geschichtsträchtige Kulturorte braucht man hier nicht lange zu suchen. Wir stolpern quasi über die königliche Abtei Fontevraud, die als größtes klösterliches Ensemble Europas gilt und von 1.100 n. Chr. bis zur Französischen Revolution von Frauen geführt wurde.
Nach einem kleinen Mittagsimbiss auf dem Marktplatz geht es weiter in die Stadt Chinon. Hoch oben über der Vienne liegt die Felsenfestung Forteresse Royale, wo Jeanne d’Arc 1429 Charles VII. verkündete, dass sie Orléans von der Belagerung durch die Engländer befreien und ihn zur Krönung führen werde. Ob dies damals bereits mit einem Glas Cabernet Franc besiegelt wurde, ist nicht überliefert, Weinbau gibt es hier jedenfalls schon seit dem Mittelalter.
Oben: Das romanische Küchengebäude der Abtei Fontevraud ist so schön wie rätselhaft | Chinon verzaubert mit Felsfestung, Vienne und verträumten Gassen.
Unten: Die Weinhandlung La Tonnelle: Hier wird angeboten, was zuvor in den naturnahen Weingärten der Loire gelesen wurde.
Nantais: Weißwein mit Meeresbrise
Immer näher kommen wir der Loire-Mündung und damit dem Meer. Licht und Luft ändern sich. Die Reben sind plötzlich überall präsent, sie stehen auf den Hochplateaus, die von den Flüssen Sèvre und Maine umschlossen werden. Bevor wir die Stadt Nantes erreichen, machen wir bei einem „unserer“ Winzer halt, um uns die Unterschiede der verschiedenen Muscadets erklären zu lassen. Der frische Weißwein wird aus Melon de Bourgogne gekeltert. Obwohl die Rebsorte als besonders frostbeständig gilt, haben die Weingüter immer wieder mit Ernteausfällen zu kämpfen. Die milder werdenden Winter lassen die Reben früher austreiben, sodass Spätfröste den Blüten gefährlich werden können. Mehr als die Hälfte seiner Trauben habe er 2021 dadurch verloren, erzählt uns Rémi. Zum Schutz investierte er in zwei kleine Windräder, die heute mitten in den Weinbergen stehen. Bei Bodenfrost schaltet er sie an, um die Kälte mit wärmeren Luftschichten zu verwirbeln.
Die Böden der Cru-Lagen sind von Granit geprägt. Wie schmal die darüberliegende Erdauflage ist, sehen wir, als wir wenig später hinter dem Rathaus der Gemeinde Château-Thebeau auf der Aussichtsplattform stehen und zum gegenüberliegenden Steilhang hinüberblicken. Was sich von oben als saftiges Grünland präsentiert, ist im Grunde dickes Felsgestein. Es verleiht den Weinen dieser Lage eine Mineralität und Salzigkeit, die wir nach dieser Offenbarung für den Rest der Reise nicht mehr missen möchten.
Nach einem Stopp in der ehemaligen europäischen Kulturhauptstadt Nantes, die uns mit dem Kunstprojekt Les Machines d’île und ihrer pfiffigen Stadtentwicklung begeistert, fahren wir weiter an den Atlantik, um am Strand von Sablons den Sonnenuntergang bei einem Glas Muscadet Sèvre-et-Maine und Austern zu genießen.
Loire, wir kommen wieder, denn deine Landschaft, Städte und Weine sind so vielfältig, dass es noch viel zu entdecken gilt.
Mehr über die Weine aus dem Loire-Tal erfahren Sie hier.
Auf den Geschmack gekommen? Unser 3er-Weinpaket Entlang des großes Flusses ist der perfekte Einstieg in die Weinwelt des Loire-Tals. Dazu gibt es zudem am 19. September einen Livestream.
Oben: Windrad als Frostschutz an den Ufern der Maine. Blick auf den ganzen Stolz der Gemeinde Château-Thebeau: Granitfelsen an der Pont Caffino.
Mitte: Die Attraktion auf dem alten Werftgelände von Nantes: der hölzerne Elefant des Kunstprojektes Les Machines d’île.
Unten: Angekommen am Atlantik.