Es hat schon etwas Kurioses, als wir Anfang Juni, kurz nach dem Lockdown, mit 12 Flaschen Moritz Kissinger Chardonnay 2018 im Kofferraum über den Rhein nach Oppenheim übersetzen, um sie zurück zu ihrem Urheber zu bringen. Nicht etwa, um den Wein zu reklamieren, sondern weil die Nachfrage am Abend des 17. Mai schlagartig explodiert ist. Was war passiert?
Der renommierte Winzer Klaus Peter Keller aus Dalsheim hatte Moritz Kissingers Erstlingswerk in einem Social-Media-Post in einem Atemzug mit einer mehrere Tausend Euro teuren Flasche Rousseau Chambertin Gran Cru 2005 erwähnt und in den höchsten Tönen gelobt. Die Folge: binnen einer Stunde ein Plus von 400 Followern für Moritz auf Instagram und mehr als 40 Bestellungen per E-Mail. Auch bei uns im vinocentral, der einzigen Weinhandlung, die den Wein gelistet hatte, schoss die Nachfrage in die Höhe, sodass wir die Abgabe limitieren mussten.
Erst zwei Monate zuvor hatten wir den Chardonnay auf Vermittlung von vinocentral-Nachwuchs Lasse, der mit Moritz in Geisenheim studiert, ins Sortiment aufgenommen. Zwar waren auch wir auf Anhieb begeistert und empfahlen ihn eifrig unserer Kundschaft, von einem Boom konnte bis dato jedoch keine Rede sein.
Jetzt schmiltz der Vorrat rasch dahin. Moritz selbst hat schon nicht mehr genug Flaschen, um die Anfragen aus der internationalen Sterne-Gastronomie zu bedienen. Und so bat er uns aushelfen. Also machen wir uns auf den Weg nach Uelversheim.
Von links nach rechts: Rückführung per Fähre nach Uelversheim – Moritz, der glückliche Empfänger – Sonja und Moritz Kissinger
Familie Kissinger betreibt bereits seit über hundert Jahren Weinbau. Moritz Vater Jürgen hat den einstigen Mischbetrieb in ein reines Weingut umgewandelt. Im Jahr 2000 sind er und seine Frau Sonja mit den Kindern in einen Neubau außerhalb des Ortes umgezogen. Als wir dort zusammensitzen, ist zu spüren, dass bewegte Zeiten hinter der Familie liegen. Nicht nur wegen des Hypes um Moritz Chardonnay. Corona-bedingt mussten 17 Veranstaltungen abgesagt werden, es gibt keine Messen oder Jahrgangspräsentationen. Die Bestellungen aus der Gastronomie brachen ein, dafür läuft der Privatverkauf. Nach einem Praktikum beim Weingut Pegasus Bay saß Moritz im April in Neuseeland fest und konnte nicht zu Hause in den Weinbergen helfen, wo die polnischen Mitarbeiter*innen fehlten. Freund*innen der Kissingers, die aufgrund der Corona-Beschränkungen freigestellt waren, sprangen spontan ein. Eine sehr emotionale Zeit, in der – trotz Abstand – viele neue, enge Verbindungen entstanden.
Oben, von links nach rechts: Moritz schwört auf Taransaud-Fässer – Lage Geierscheiß, manche lesen auch „Geiler Scheiß“ – Blick bis nach Oppenheim
Unten, von links nach rechts: Die Steine sind das Salz in Moritz Wein – Moritz Kissinger und Michael Bode vom vinocentral im Weinberg
Mittlerweile ist wieder mehr Ruhe und Zuversicht eingekehrt. Der Erfolg des Chardonnay inspiriert. Moritz sprüht nur so, als er erzählt. Nach Lehre und Praktika bei Wagner-Stempel, Gutzler und Raumland will er jetzt jedes Jahr einen eigenen Wein mit eigener Handschrift machen. Und die orientiert sich ganz offensichtlich am Burgund. „Primärfrucht ist nicht mein Ding“, sagt er. Stattdessen setzt der junge Winzer auf oxidativen Ausbau und zügige Spontangärung. Vorbilder sind Julian Huber im Breisgau und Weingut Knewitz in Appenheim. Durch Umpumpen des Mosts, der sogenannte Remontage, führt Moritz während der Gärung immer wieder Sauerstoff zu. „Der Wein soll mit Luft gesättigt sein. Bei Rotwein ist das gang und gäbe, bei Weißwein nicht. Konventionell ist die Methode nicht“, er lacht. „Ich lege Wert auf eine zügige Vergärung, ohne die Temperatur zu kontrollieren.“ – Der Erfolg gib ihm Recht. Sein Chardonnay zeigt, dass neben dem Einfluss der Böden auch noch andere Faktoren den Wein bestimmen können.
Ob das auch Auswirkungen auf die Kissinger Weine insgesamt hat, wollen wir wissen. Schließlich arbeiten Vater und Sohn innerhalb ihrer Serie „Duo“ eng zusammen. Momentan werden die Duo-Weine noch nicht spontan vergoren. Moritz hat seine eigene Linie, die sich auch in einem anderen Etikett widerspiegelt. Was beide jedoch gemeinsam prägt, sind die Erfahrungen aus der Umstellung auf Bio-Anbau und seit einem Jahr auch auf Biodynamie. „Das hat den Blick auf die Weinberge verändert“, erzählt Jürgen.
Oben, von links nach rechts: Kartoffeln, gepflanzt an Wurzeltagen nach Maria Thun – Der Bienenstock aus dem Weinberg wurde mittlerweile umgesiedelt
Unten, von links nach rechts: Kompost und selbstgebauter Kompostwender – Jürgen Kissinger mit dem Besen zum Verteilen der biodynamischen Präparate – Schachtelhalm für den Präparate-Tee
Draußen zeigen uns die beiden ihren Kompost aus Mist, Grünschnitt, Tonerde und Trester. Auch die Mitarbeiter scheint die Umstellung zu beflügeln. Einer hat eine Maschine gebaut, um den Kompost zu wenden, damit keine Fäulnisprozesse entstehen. Auch für das Ausbringen der biodynamischen Präparate hat er sich etwas einfallen lassen und ein eigenes Gerät entwickelt.
„Wenn man morgens um sechs Uhr im Weinberg steht, sieht man, dass der durch den Tau so nass ist wie nach einem Regenguss. Um acht Uhr bekommt man das gar nicht mit. Das heißt, wir gehen jetzt ganz anders mit den Pflanzen um.“ Den Weinbergen tut das gut. Von der jahrzehntelangen konventionellen Bewirtschaftung sind die Böden ausgemergelt. Nach und nach erholen sie sich. „Uns ist im Wingert ein Bienenvolk zugeflogen. So etwas habe ich vorher noch nie erlebt. Das ist für mich ein deutliches Zeichen, dass wir etwas bewegen.“ – Wir freuen uns, diese Entwicklung begleiten zu dürfen.
Am Ende der Rückführung gewährt uns Moritz schließlich eine Fassprobe seines Chardonnay 2019: Frisch, strukturiert, gradlinig – und noch eine Spur harmonischer als der 2018er präsentiert er sich am Gaumen, sodass wir sofort in die Verhandlungen einsteigen. Am Ende ist ein Teil der Flaschen für uns reserviert! Wir freuen uns auf April 2021, wenn Moritz sie zum Release ins vinocentral bringt!
Fotos: Janne Böckenhauer